Vererbung und Beeinflussung. Oder: was war zuerst da ?

Du glaubst also, wenn ich richtig sehe, dass deine Probleme durch suboptimale Erziehung entstanden sind ?, fing mein Vater sein Enthüllungsgespräch an. Schon, sagte ich, und ein Teil ist sicher auch Veranlagung. Hm.., machte er, anscheinend erleichtert. Und führte aus, wie er und diverse Vorfahren arge Sozialphobieprobleme gehabt hätten und dass das sicher blöd wäre für mich zu wissen, aber da ich ja nun mal nachgefragt hätte.. Das höre nicht auf und er selbst müsse sich immer zwingen, was mit Menschen zu machen, damit die sozialen Fähigkeiten nicht einrosten und gar nicht erst Verweigerung und Stillstand einträten. Manchmal ginge es dennoch einfach nicht, bestimmte Kellner oder andere harmlose Leute anzusprechen, was wiederum zu Verwunderung der Begleitpersonen führt.
Ich war erleichtert, hatte gedacht, er würde mir was Schlimmeres verheimlichen, irgendwas Gewalttätiges in meiner frühen Kindheit oder so. Dass er seit ich ihn kenne, ziemlich ruhelos und unausgeglichen zwischen Projekten und Leuten hin- und herhetzt, aber nie wirklich zufrieden wirkt, war mir früh aufgefallen.  Dass hinter dem Zynismus Ängste stecken, dachte ich mir auch und die Veranlagung zum Verkomplizieren und depressiv sein sah ich in anderen Familienmitgliedern. Weil ich also so erleichtert war, wollte ich keine Vorwürfe machen im Sinne von: Ich hatte nicht nur oft Angst vor Menschen und Blamieren, sondern habe auch Borderline-Tendenzen, die nun mit einer ausgeglichenen, harmonischen Erziehungsform sicherlich weniger bis gar nicht gekommen wären. Ich hätte ihm vorwerfen können: den Leistungsdruck, das Kalte, das Lieblose, das Hin und Herschieben, mein mangelndes Urvertrauen, die tief eingebrannten Gefühle der Hilflosigkeit unter seiner Gewalteinwirkung, die offen ablehnenden Aussagen, das Vermitteln eines negativen Weltbildes. Aber wozu hätte das führen sollen ?
Verziehen habe ich eh schon soweit möglich. Trost kann ich mir aus seinem Mund eh nicht vorstellen. Dass andere es noch beschissener haben, weiß ich eh. Und hier kommen wir zu der Frage, was zuerst da war.
Meiner persönlichen Meinung nach: die Veranlagung zur Ängstlichkeit und das Hochsensible. Dann der ablehnend bis chaotische Erziehungsstil und Kontakt mit komplizierten Mitschülern drauf, fertig sind die beiden Persönlichkeitsstörungen, mit Depressionen und Sozialphobie als Symptomen. Einfach geboren werden und die Zwischenmenschen-Angst ist da und unaufhaltbar scheint mir durchaus zu kurz gegriffen.

Eltern verhalten sich oft so, wie sie es gelernt haben bzw. selbst erlebt haben, das ist wohl Konsens in Psychologie-/Sozialarbeitstexten. Eine traurige Sache. Ich  möchte daher jedem Kind einen erweiterten Kreis von Bezugspersonen wünschen. Und kann den Gedanken an versteckte, leidende Kinder überall um einen herum eigentlich schlecht ertragen. Ich nehme mir vor, sozialkompetenter zu werden, auch um künftigen Mitschülerinnen meiner Töchter oder sonstwie kennenzulernenden anderen Familien helfen zu können. Irgendwie die richtigen Worte finden, die die überforderten Eltern berühren und nicht eingeschnappt machen.

Mir ist bewusst, dass ich verschiedene Male Glück gehabt habe- ich sehe so einige Zeitpunkte, an denen mein Leben eine üblere Wendung hätte nehmen können – und aus Dankbarkeit, vielleicht auch wieder schlechtem Gewissen – möchte ich irgendwann und öfter mal helfen. Mich in Personen einfühlen, die es nötig haben und eben nicht, wie jetzt, verängstigt und unsicher weitergehen in dem Wissen, dass ich eh nicht die richtigen Worte finden würde.

Wenn ich mich mit Mitmenschen vergleiche, wozu mir das Netz wie auch mein Plattenbauviertel und Ausflüge in die Provinz genug Gelegenheit bieten, denke ich mitunter: puh, nur dank meiner Intelligenz und meines massenkompatiblen Aussehens fanden sich in all den Jahren genug Menschen, die sich um mich kümmerten, mir gut zuredeten, obwohl ich mitunter aggressiv oder viel zu verschwiegen war. Wäre ich mit anderer Genetik und in einer anderen Familie geboren, wäre ich vielleicht auf der Sonderschule gelandet, wo man mich fette Kuh genannt und täglich in einen Plattenbaukeller gesperrt hätte. Keine Ahnung. Oder ich wäre ein Junge geworden und hätte mich in chemische Drogen und Sexsucht geflohen. Stattdessen war ich zwar auch nicht auf ner Eliteschule oder mit einem anerkannten älteren Künstler verheiratet, aber es standen immerhin auch kluge Bücher in den elterlichen Regalen und manchmal haben wir Reisen gemacht, die meine Ästhetikvorlieben prägten oder meinen Horizont anderweitig erweiterten.

 

Enttäuschungen drei und vier. Und das Funktionieren.

Wie habe ich das gemacht, wieder zu funktionieren ?

Ich habe zwei Stunden auf Heulen und nervös Umhertigern verwendet. Im Moment, als der „ach, du bist eh scheiße, du kannst genauso gut aus dem Fenster rollen“-Gedanke kam, habe ich an meine Tochter gedacht und mir mit aller aufbietbarer Moral gesagt: nee, fuck, das kannst du der Kleinen nicht antun, du hast Verantwortung.
Zwischendrin habe ich mich auch mal auf den Teppich im Foyer gehockt und gewusst, dass ich rechtzeitig verschwinden könnte, wenn ein Mensch sein Kommen ankündigte – und ein schwarz-weiß-Foto aus der rumliegenden Zeitung geschnitten und Sterne in Kuhköpfe gemalt. Bei der Aktion habe ich mich voll künstlerisch gefühlt, sozusagen voll zum Haus passend – umso ärgerlich dass (Enttäuschung vier) ich es bald verlassen muss.

Nach besagten zwei Stunden wurde mir bewusst: nochmehr rumheulen würde es schwierig machen, meine Tagesaufgaben rechtzeitig zu erfüllen. Noch mehr Ärger wollte ich mir nicht einhandeln, darum: Wege finden, zu funktionieren. Ich ging dann Richtung Küche, wo ein Musiker, der immer künstlich fröhlich ist, Mittag zubereitete. Ich, in der stets ähnlichen Konversation geübt, flötete was Zustimmendes und setzte mich an den Tisch der anderen Aufs-Mittag-Wartenden, die ein jüngerer Musiker und eine charmante Keramikerin waren. Obwohl sie mich nur flüchtig kannten, gaben sie sich daraufhin alle Mühe, mich freundlich ins Gespräch einzubeziehen und zu lächeln.
Ich gab mir auch Mühe, interessiert zu wirken und all meinen Neid zu verbergen. Dazu schilderten beide noch Situationen, die sie eindeutig als Hochsensible auswiesen. Da war es wieder, das Gefühl von Friede, Freude, Eierkuchen. Und ich habe Angst, dass es mir nie wieder zu teil wird, ab September. Jaja, ich hatte geschrieben, ich könnte immernoch wieder Nerd werden. Aber will ich das, nachdem ich den Geruch der Freiheit gerochen habe ? *pathos aus*

Enttäuschung 3.:
Das war nach der blöden Buchdiskussion. Ich lief weg, flüchtete die Kleingruppendiskussionen. Und dachte ja: ich habe noch ein Date, haha !
Dann rief ich an, den Flirtpartner, den ich jüngst erwähnte. Der sagte allerdings, er sei noch unterwegs, das dauere noch eine Stunde. Ich so: naja, ich kann ja erstmal was essen gehen. Und er: naja, ich bin auch schon etwas müde. Vielleicht einen anderen Tag? Ich so: jaja. Obwohl ich nicht soviele Gelegenheiten habe. Er: Hm, sorry.
Ich legte auf und ging schnell. Wenn ich emotional aufgeladen bin, gehe ich gerne schnell, das erdet irgendwie. Blöder Arsch, dachte ich. Erst mir ein halbes Jahr lang Komplimente machen und wenn ich dann soweit bin, sich nicht  an die Verabredung halten.
Okay, dachte ich, eine eindeutige Zeit hatte ich ihm nicht genannt, weil ich nicht wusste, wann die Diskussion fertig sein würde. Aber ich hatte mir eben vorgestellt, der säße freudig wartend zu Hause. Haha, Hybris !
Dann war ich auf dem Heimweg und er rief zurück: er sei nun doch schon zu Hause, und wenn ich vielleicht Wein mitbringen könnte.. Ich, verwirrt: na, ich fahre grad nach Hause, du hast doch gesagt, es dauere noch ne Stunde.. Er: ja, hm, na du musst nicht umdrehen. Ich: obwohl, hm.. okay, machen wir nicht so ein Hin und Her. Du hattest ja sicher einen wichtigen Grund. Er: Ja ! Ich : Bis irgendwann, ciao.
Dann fuhr ich nach Hause und dachte: offensichtlich ist er schon irgendwie interessiert, sonst hätte er ja nicht zurückgerufen, aber auch offensichtlich nicht so sehr interessiert, dass er andere Termine für mich absagt. Und : was für ein verpeilter Typ, kein Zeitgefühl, kein gutes Aufgabenmanagement, ich bin da ja organisierter.

Und die letzte Enttäuschung, die von heute vormittag:
Da las ich eine Email an  meinen Chef, weil er mich aufgefordert hatte, in seinem Raum auf den Paketboten zu warten und den Bildschirm angelassen hatte. Wäre da ein Geheimnis, hätte er wenigstens sein Browserfenster geschlossen.

Jedenfalls las ich die Bewerbung meiner Nachfolgerin und bekam einen Schlag. Ich hatte mir immernoch ausgemalt, dass sich keiner bewirbt, weil die Stelle kraft der Überforderung meines Chefs gar nicht ausgeschrieben war. Nun aber hatte eine Dame von einer befreundeten Institution, mit der ich sogar noch über die Problematik gesprochen hatte und die bestimmt denkt: wahnsinn, welchen Gefallen ich allen getan habe ! einer 18-jährigen die Bewerbung empfohlen und scheiße, die Gute kann alles, was ich nicht kann: die hat eine Jugendleiterkarte, arbeitete bei einer selbstverwalteten Jugendkultureinrichtung und hat das WG-Zimmer von einem lässigen Typen übernommen, der für den Verein manchmal Catering macht.
Es gibt also keinen Grund für den Chef, nein zu sagen, aber 1000 Gründe für mich, Nichtigkeitsgefühle zu entwickeln.
Ich verfiel also in Grimm.
Später sagte ich mir: nein, die Gute kann nichts dafür, eigentlich kann keiner außer mir selbst was dafür und die Lösung wäre, mich mit meiner Nachfolgerin anzufreunden und ihr den Verein zu erklären, damit sie mich mit all ihrer Souveränität mit Jugendkulturtypen in Verbindung bringt, die ein Büro für mich haben und mir helfen, meinen Traum von der Undergrundkulturzeitschrift zu verwirklichen.

 

Das ist ein optimistischer Schluss. Herrje und herrja.

 

Verantwortung übernehmen

Kinder soll man so erziehen, dass sie freiwillig Verantwortung für sich und andere übernehmen, schreiben viele Elternratgeber. Einen selbstbewussten Menschen bauen, der reflektieren und anderen helfen kann, scheint das Ziel zu sein.

Es ist für gesunde und starke Menschen leichter, neue starke Menschen zu erschaffen. Aber es ist hoffentlich nicht unmöglich, seelisch stabile junge Menschen zu kreieren, wenn mensch selbst schwach ist und instabil.

Verantwortung ist wohl so ein zentraler Wert in der Selbstemanzipationsdebatte. Zu dem stehen, was man getan hat, und entweder souverän Lob annehmen oder sich Verbesserung geloben.

Verantwortung übernehmen ist eine heftige Herausforderung für die Ängstlich-Vermeidenden.

Man könnte die Verantwortung gar nicht verdient haben oder damit nicht umgehen können. Die meisten Verantwortungen basieren auf sozialen Kompetenzen, erfordern die also, und genau die hat oder glaubt die Ängstlich-Vermeidende Person nicht zu haben. Also lehnt sie die Verantwortung lieber ab, bevor sie beim Versuch, die Herausforderung zu meistern, scheitert und womöglich für längere Zeit ein unfähiges Image bekommt.

Wer nie verantwortungsvolle Aufgaben übernimmt, wird aber für ewig Handlanger ohne Entscheidungsbefugnis bleiben. Und damit immer den Launen der Entscheidungsträger ausgeliefert.

Ich finde, das ist ein Teufelskreis, zumindest in der Moderne, wo von den Menschen ständiger Ehrgeiz erwartet wird. Wer hat schon noch Verständnis für die karrieretechnisch Genügsamen ?